Ansaar: Wohltäter oder Salafisten?

Joel Nicholas Kayser war schon vieles in seinem Leben: Gangsta-Rapper, Kleinkrimineller, Gefängnisinsasse. Jetzt verteilt er unter dem Namen „Abdurahman“ Millionenspenden in den ärmsten Ländern der Welt. Gleichzeitig wird sein Verein, die muslimische Hilfsorganisation „Ansaar International“, vom Verfassungsschutz beobachtet, das Innenministerium will ihn verbieten. Der Vorwurf: Terrorfinanzierung.

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Düsseldorf. Auf dem Weg zu den Büros der muslimischen Wohltätigkeitsorganisation Ansaar International ist wenig von dem zu sehen, was sonst mit der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt Düsseldorf assoziiert wird. Auf dem Vorplatz des Hauptbahnhofs der Stadt, die vielen nur als Schickimicki-Metropole und Reichenghetto bekannt ist, stehen ältere Herren an Bierflaschen nippend zusammen und diskutieren. Dönerläden, Obdachlose und Drogenabhängige zieren das Straßenbild. Ein paar hundert Meter vom Bahnhof entfernt liegt der Worringer Platz, regionaler Junkie-Treffpunkt und einer der geschäftigsten Drogenumschlagplätze Westdeutschlands. Statt Zigaretten oder Kaugummis bekommt man hier saubere Spritzen aus den Automaten, die in diesem verlotterten Biotop urbanen Zerfalls an den Häuserwänden hängen. Verlorene Seelen, wohin man blickt, müde und traurige Gestalten, die mit glasigem Blick Löcher in diesen sonnigen Morgen starren.

Das Straßenbild ändert sich nicht grundlegend, wenn man die Worringer Straße bis zur Hausnummer 68 hinaufgeht. Das Tor in den Hinterhof steht offen, darüber ein weißes Schild mit schwarzen Buchstaben. „Ansaar International e. V.“ ist zu lesen, rechts und links daneben das Emblem des Vereins, auf dem vier gesichtslose, in Gewänder gehüllte Gestalten vor einer Weltkugel zu sehen sind. Es gibt getrennte Eingänge für Frauen und Männer, draußen werden die Schuhe ausgezogen.

Projekte in den gefährlichsten Ländern der Welt

Die Inneneinrichtung ist in weiß gehalten, es ist gemütlich, aber spartanisch eingerichtet. Flyer und Broschüren liegen aus, eine Ecke ist zu einer Art Fanshop umfunktioniert, in dem man sich mit Merchandise eindecken kann: Shirts, Pullover, Gewänder, Mützen, die alle den Schriftzug und das Logo von Ansaar tragen. Sieht man genauer hin, fallen einem die Kameras auf, die unter der Decke angebracht sind. Auf einem großen Fernseher laufen Videos, die die Arbeit von Ansaar in den gefährlichsten Orten dieser Welt dokumentieren: Somalia, Afghanistan, Syrien, Jemen, Libyen, Sudan, Palästina. Immer wieder ist derselbe Mann zu sehen, Ende 30, langer Bart, mal trägt er eine kurze Hose und ein weites Basketballshirt, mal ein traditionelles muslimisches Gewand. Mal spielt er mit afrikanischen Kindern Fußball, mal erklärt er in die Kamera, wie die Vorrichtung, auf die er gerade zeigt, Wasser reinigt. Der Mann heißt Abdurahman Kayser und ist Gründer und Vorsitzender von Ansaar International.

Ansaar-Chef Abdurahman Kayser in seinem Büro in Düsseldorf. Foto: Carsten Korfmacher

Ansaar-Chef Abdurahman Kayser in seinem Büro in Düsseldorf. Foto: Carsten Korfmacher

„Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Rest des Gebäudes“, sagt Kayser. Über den Hinterhof führt eine breite Treppe ins Kellergewölbe. Unten ist ein Filmstudio untergebracht, in dem Interviews geführt und Videos gedreht und geschnitten werden können. Auf dem Boden liegen eine Fernsehkamera, eine Drohne und technisches Zubehör. „Mit dem Equipment sind wir erst gestern aus Ghana zurückgekommen, wo wir das größte Waisendorf des Landes gebaut haben“, erklärt Kayser. 360 Kinder leben mittlerweile dort, Ansaar hat vor Ort Psychologen, Erzieher und Pädagogen angestellt. Es ist nur eines von vielen Hilfsprojekten, die Ansaar weltweit, vor allem aber in Afrika und im Nahen Osten, durchführt. Durch Spendengelder baut der Verein Krankenhäuser, Brunnen, Waisendörfer, Witwenheime, Moscheen und Koranschulen. Zudem bringt Ansaar Nothilfe in aktive Kriegsgebiete, um Verletzte, Hungernde und Flüchtlinge zu unterstützen.

Behörden ordnen Ansaar salafistischem Spektrum zu

Wohltätigkeit. Das ist die eine Seite der Medaille. Sie ist unstrittig, denn Hunderte Stunden bereits veröffentlichtes Videomaterial, eine ganz Wand voller Aktenordner und Hunderttausende Fotos dokumentieren die Arbeit des Vereins in knapp 50 Ländern. In besonders gefährlichen Regionen, zum Beispiel in Teilen Syriens, Libyens und Somalias, ist Ansaar die einzige karitative Einrichtung, die überhaupt noch vor Ort hilft. Doch die Medaille hat noch eine zweite Seite: Denn Ansaar wird seit seiner Gründung im Jahr 2012 vom Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen beobachtet, die Behörde ordnet den Verein dem extremistisch-salafistischen Spektrum zu.

Die Gründe dafür sind undurchsichtig. Nach Behördenangaben gibt es verschiedene Anhaltspunkte für Verstrickungen zwischen Ansaar und terroristischen Vereinigungen. Zum Beispiel vermutete das NRW-Innenministerium in seinem Verfassungsschutzbericht von 2015, dass Ansaar Verbindungen zur Al-Nusra-Front pflege, da der Verein in Syrien ein Krankenhaus in einer von der Terrororganisation kontrollierten Region eröffnete: Eine „Hilfeleistung in einem von einer dschihadistischen Gruppierung kontrollierten Gebiet“ sei nicht „ohne die Zustimmung und das Einvernehmen der örtlichen Machthaber möglich.“

Keine Zusammenarbeit mit Terror-Organisationen

Ansaar-Chef Kayser bestreitet jede Zusammenarbeit mit Terrorgruppen. „Natürlich gab es Versuche, uns vor Ort zu vereinnahmen, aber die haben wir abgewehrt“, so der 39-Jährige. Die Drohung, das Gebiet sofort zu verlassen, habe immer Wirkung gezeigt, schließlich wolle kein Machthaber der Bevölkerung erklären müssen, warum er eine Hilfsorganisation weggeekelt habe. „Wir distanzieren uns klar von Extremismus und Radikalismus und wir lehnen jede Form von Gewalt ab“, sagt Kayser. Zudem sei Ansaar in der Vergangenheit immer wieder selbst zur Zielscheibe von IS-Anhängern geworden.

Trotzdem blieb die Beobachtung durch den Verfassungsschutz, auch die Vorwürfe nahmen nicht ab. Ansaar soll „bei Spendensammlungen international bekannte und angesehene salafistische Prediger als besondere Attraktionen eingebunden“ haben. Das „Streben nach Anerkennung als gemeinnützige Organisation“ sei lediglich „als Teil eines vordergründigen Legalisierungskurses zu verstehen“, hieß es 2015. Zwei Jahre später soll es personelle Überschneidungen zwischen Ansaar und dem mittlerweile verbotenen Verein „Die Wahre Religion“ gegeben haben, der sich mit seinem Projekt „Stiftung Lies!“ für einen Großteil der damaligen Koran-Verteilungsaktionen in deutschen Fußgängerzonen verantwortlich zeichnete. Nach Angaben des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes habe Ansaar ein Vakuum in der salafistischen Szene gefüllt, das durch das Lies-Verbot hinterlassen wurde. Der Verein klagte gegen verschiedene Medien, die diesen Vorwurf als Tatsachenbehauptung wiederholten – und bekam Recht.

Verein soll Gelder an die Hamas weitergeleitet haben

Zuletzt wurde dem Verein vorgeworfen, durch die Weiterleitung von Spendengeldern die palästinensische Hamas, die von der EU als Terrororganisation eingestuft wird, unterstützt zu haben. Es gebe „Hinweise auf Verstöße gegen den Gedanken der Völkerverständigung“, teilte das Bundesinnenministerium im April 2019 mit. Die Behörde ließ 90 Objekte des Ansaar-Netzwerkes in neun verschiedenen Bundesländern durchsuchen. Das Ziel, sagte ein Ministeriumssprecher dem Nordkurier, sei das Verbot von Ansaar.

Lebensmittelverteilung im Bürgerkriegsland Jemen im Jahr 2018. Foto: ZVG

Lebensmittelverteilung im Bürgerkriegsland Jemen im Jahr 2018. Foto: ZVG

Abdurahman Kayser geht routiniert mit den Vorwürfen um, schließlich hat er sie schon Hunderte Male gehört. Nichts hat ihn seit April so sehr beschäftigt. Unterlagen, Computer, alles war weg, beschlagnahmt, es dauerte Monate, bis sich der Verein wieder reorganisiert hatte. Von den 17 Vollzeit-Angestellten in Deutschland waren anfangs bloß noch eine Handvoll Ehrenamtler übrig, Gehälter wurden nur noch an Ärzte und andere Fachkräfte im Ausland bezahlt. Über Monate warteten viele Projekte auf Geld, Spenden wurden über Paypal und ein Konto in der Türkei geleitet, weil Ansaar bereits seit 2014 immer wieder die Konten in Deutschland gesperrt werden. „Die meisten Vorwürfe gegen uns“, so Kayser, „sind eine Konsequenz aus genau dieser Tatsache“.

Ansaar verklagte Sparkasse und Verfassungsschutz

Aus Gerichtsunterlagen, die dem Nordkurier vorliegen, geht hervor, dass eine kleinere Hilfsorganisation namens WWR-Help Ansaar über Jahre ein Konto zum Spendensammeln zur Verfügung stellte – bis WWR selbst im Verfassungsschutzbericht auftauchte. Der in Neuss bei Düsseldorf ansässige Verein hatte in Gaza die Herstellung von Heizöfen in Auftrag gegeben und dafür eine Überweisung an die Organisation „Islamic Society Jabaliya“ getätigt, die damals laut Unterlagen Verbindungen zur Hamas unterhielt. Auf dieser Basis steht heute der Vorwurf im Raum, Ansaar würde Terrororganisationen unterstützen. „Das ist völlig absurd. Wir hatten nie etwas mit dieser Gaza-Organisation zu tun und ich habe WWR-Help persönlich geraten, sofort alle Verbindungen zu der Gruppe abzubrechen“. Dem Nordkurier liegt eine eidesstattliche Erklärung der Geschäftsführerin von WWR-Help vor, die diese Aussage bestätigt.

Ansaar verklagte in der Folge sowohl den Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen als auch die Sparkasse Düsseldorf. Man wolle sich weder weiter als extremistisch-salafistisch bezeichnen lassen, noch auf ein eigenes deutsches Konto verzichten. Beide Klagen wurden abgewiesen. Vor Gericht vertreten wird Ansaar übrigens durch die Kanzlei Ralf Höckers, des Pressesprecher der Werte-Union, die zum äußersten rechten Rand der CDU gezählt wird. Ihr bekanntestes Mitglied ist der ehemalige Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, der jüngst selbst eine Anstellung in der Kanzlei fand.

Fußballprofi unterstützt Ansaar und wird entlassen

Es ist nicht die einzige prominente Unterstützung, die Ansaar in den vergangenen Jahren bekommen hat. Der ebenfalls aus Düsseldorf stammende Gangsta-Rapper Farid Bang, der mit zwei seiner sechs Alben sogar Platz 1 der deutschen Charts erreichte, veröffentlichte 2014 eine gemeinsame Video-Botschaft mit Ansaar-Chef Kayser. Darin forderte er seine Fans auf, Ansaar durch Spenden beim Bau einer Wasseraufbereitungsanlage im Gazastreifen zu unterstützen. Auch der ehemalige deutsche Jugendnationalspieler und Ex-Bundesligaprofi Änis Ben-Hatira unterstützte Ansaar.

Änis Ben-Hatira (Mitte) mit Ansaar-Chef Kayser bei einem Besuch in Ghana im Dezember 2017. Foto: ZVG

Änis Ben-Hatira (Mitte) mit Ansaar-Chef Kayser bei einem Besuch in Ghana im Dezember 2017. Foto: ZVG

Nach finanziellen Zuwendungen begleitete Ben-Hatira den Verein auf Reisen und ließ sich auf zahlreichen Fotos und Videos mit Kayser ablichten. Aufgrund der Salafismus-Vorwürfe gegen Ansaar forderte sein damaliger Verein, der SV Darmstadt 98, Ben-Hatira auf, sein Engagement zu beenden und sich von der Hilfsorganisation zu distanzieren. Ben-Hatira weigerte sich und wurde im Januar 2017 suspendiert. In Deutschland wollte ihn anschließend kein Verein mehr beschäftigen, über kurze Engagements in der Türkei und Tunesien landete er schließlich bei Honved Budapest in Ungarn.

Als Abdurahman Kayser Ansaar im Jahr 2012 gründete, war er selbst kein Unbekannter. Joel Nicholas Kayser, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, wuchs in einem der ärmlichen Bezirke im südlichen Teil Düsseldorfs auf. Er ist Deutscher, seine Familie hat ihre Wurzeln in Frankreich und Russland, lebte aber schon seit zwei Generationen in Deutschland, als Kayser 1980 geboren wurde. Schon früh in seinem Leben geriet er auf die schiefe Bahn, war Mitglied einer Straßengang, verkaufte Drogen. Irgendwann schloss er sich unter dem Künstlernamen „Joel K.“ der Düsseldorfer Rap-Band „BTM Squad“ an. Das große Geld war damals mit Straßen-Rap nicht zu verdienen, doch Kayser gelang es, mit der Musik seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Eine Zeit, die Abdurahman Kayser hinter sich gelassen hat: als "Joel K." im Musikvideo "In der Hood" der Düsseldorfer Rapgruppe "BTM Squad". Foto: Youtube

Eine Zeit, die Abdurahman Kayser hinter sich gelassen hat: als „Joel K.“ im Musikvideo „In der Hood“ der Düsseldorfer Rapgruppe „BTM Squad“. Foto: Youtube

Die Gruppe war bundesweit einer der Vorreiter des deutschen Gangsta-Rap, sie stand schon auf der Bühne, als die heute bekannten Berliner und Hamburger Szene-Größen noch zur Schule gingen. Trotzdem ließ Kayser nicht von seinem kriminellen Lebensstil, nahm Drogen, trank Alkohol, geriet auf der Straße immer wieder in Konflikte, stand insgesamt 17 Mal vor Gericht. Irgendwann wurde er wegen Drogenhandels im großen Stil festgenommen, saß in Untersuchungshaft, eine lange Gefängnisstrafe erwartete ihn. Es war der Wendepunkt in seinem Leben. Er bekam noch einmal Bewährung und bedankte sich dafür, indem er sein Leben änderte. „Ich schäme mich für die Dinge, die ich damals getan habe, und bereue diese Zeit sehr“, sagt Kayser. Heute ist er verheiratet, hat drei Kinder. „Der Islam hat mich gerettet.“

Terroristen-Helfer reiste mit Ansaar nach Syrien

Kayser gründete Ansaar unmittelbar nach seiner Musikkarriere. Die ersten Monaten, vielleicht Jahre, sind wohl als Umbruchszeit zu verstehen, in der er die Wut und Aggression, die er vormals in seinen Liedtexten verarbeitete, nun in sein neues Projekt fließen ließ. „Damals haben wir Fehler gemacht“, sagt Kayser. „Wir waren jung, unerfahren, naiv. Und wir sind anfangs einfach zu schnell gewachsen.“ Viele Vorwürfe stammten aus den ersten Jahren, als Ansaar noch keine Sicherheitsmechanismen implementiert hatte. „Wir haben jeden, der uns einen Krankenwagen spendete, mit nach Syrien genommen“, so der Ansaar-Chef.

Auf einer ihrer ersten Reisen nach Syrien im Jahr 2013 hätten sie einen Begleiter während der Fahrt ausgeschlossen, weil sich die Person als radikaler Islamist herausstellte. Namen will Kayser nicht nennen, doch nach Nordkurier-Informationen handelt es sich hierbei um den 62-jährigen Deutsch-Pakistaner Mirza Tamoor Baig, der im Jahr 2017 vom Düsseldorfer Oberlandesgericht zu einer mehr als sechsjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Die Richter sahen es als erwiesen an, dass Baig immer wieder Terroristen nach Syrien geschleust und den IS und die Al-Nusra-Front finanziell und organisatorisch unterstützt hatte.

Ansaar-Mitarbeiter bereiten eine Massebverteilung von Lebensmitteln in Somalia vor. Foto: ZVG

Ansaar-Mitarbeiter bereiten eine Massebverteilung von Lebensmitteln in Somalia vor. Foto: ZVG

In der Folgezeit professionalisierte Ansaar seine Arbeit: Heute gibt es Sicherheitsprotokolle und Hintergrundchecks, Benefizveranstaltungen mit Rednern wurden ganz abgeschafft, potenzielle Mitglieder müssen schriftlich erklären, dass sie noch nie Mitglied einer verbotenen Organisation waren. Außerdem erweiterte Ansaar sein humanitäres Portfolio, hilft heute nicht mehr nur Muslimen, sondern auch Christen oder Jesiden. In Regionen, in denen Frauen selten Bildung genießen, wie im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, baut der Verein Schulen speziell für Mädchen. Und auch in der Obdachlosenhilfe in Deutschland setzt sich Ansaar zunehmend ein. Um der Salafismus-Vorwürfe entgegenzuwirken, lud Kayser bei einer Pressekonferenz Journalisten, Polizisten und Ermittler in die Ansaar-Büroräume ein und stellte einen freien Zugang zu allen Räumlichkeiten, Unterlagen und Konten in Aussicht. Niemand nahm die Einladung an – bis zum Tag der Razzia.

Von Behörden und Medien wird der Verein trotzdem als salafistische Organisation wahrgenommen, deren Hilfstätigkeit nur die Fassade ist, hinter der sie ihre Ideologie in die Welt tragen kann. „Dadurch fühlen wir uns diskriminiert“, sagt Abdurahman Kayser. „Wir haben in den vergangenen Jahren so viele Projekte zur Völkerverständigung gemacht, machen so viele Freundschaftsprojekte mit christlichen Gemeinschaften.“ Außerdem hätten Ansaars Anwälte immer wieder Kontakt zu den Behörden gesucht, um herauszufinden, wie sich die Organisation verhalten soll, um das Stigma der Beobachtung durch den Verfassungsschutz loszuwerden. Nie habe es eine Antwort gegeben.

Expertin: Unterstützer-Umfeld ist extremistisch

Kayser kann diese abwehrende Haltung gegenüber seiner Organisation nicht verstehen. „Wir sind die Generation X unter den Muslimen, die erste Generation, die sagt: ‚Hört auf, euch über die Herkunftsländer eurer Eltern zu definieren‘. Wir sind deutsch, wir stehen zu diesem Land. Wir wollen ein Plus für Deutschland sein, kein Minus.“

Nicht alle Kommentatoren sind von diesen Aussagen überzeugt: „Wenn man sich die Mitarbeiter und das Umfeld von Ansaar vor allem in den sozialen Medien ansieht, dann muss man zu dem Schluss kommen, dass es sich hier um das extremistische Milieu handelt“, sagt Islamismus-Expertin Sigrid Herrmann-Marschall, die Ansaar seit Jahren beobachtet. Zwar habe sich in den vergangenen Jahren das Marketing des Vereins verbessert, die Haltung selbst habe sich aber nicht geändert.

Dies zeige sich durch Kontakte zu und Kooperationen mit radikalen Personen und Organisationen wie der türkischen IHH, deren deutscher Ableger 2010 vom Bundesinnenministerium verboten wurde. Dem Nordkurier liegt ein Foto vor, dass Mitglieder der beiden Organisationen bei einer gemeinsamen Aktion im Jahr 2016 im türkischen Kayseri zeigt. Allerdings distanzierte sich die türkische IHH bereits vor dem Verbot der deutschen IHH von dieser: Es handele sich trotz desselben Namens – und eines gemeinsamen Ursprungs – um verschiedene Organisationen.

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Von außen ist ohnehin schwer zu beurteilen, wie genau die Beurteilung der Behörden zustande kommt. Weder der Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen noch das Bundesinnenministerium antworteten auf einen entsprechenden Fragenkatalog des Nordkurier. Man bitte um Verständnis, heißt es aus Düsseldorf, dass man sich zu einem laufenden Verfahren nicht äußern könne. Das Bundesinnenministerium verwies ebenfalls auf das schwebende Verfahren, in dessen Verlauf inhaltliche Stellungnahmen „zu einer systematischen Beweisverschlechterung“ führen könnten, so ein Sprecher. Auch die in Nordrhein-Westfalen tätigen Aussteigerhilfen für Salafisten, der Düsseldorfer Wegweiser und das Aussteigerprogramm Islamismus, wollten sich gegenüber dem Nordkurier zu Ansaar nicht äußern.

Und so bleibt nur die direkte Frage: „Herr Kayser, sind Sie ein Salafist?“ – „Natürlich bin ich kein Salafist“, antwortet Kayser erbost. Seine Gesichtszüge werden kurz hart, weichen dann aber wieder auf, er wirkt nachdenklich. Ihm scheint bewusst zu werden, dass schon bei der Frage die Schwierigkeiten beginnen. „Was sind überhaupt Salafisten“, fragt er schließlich. Wenn damit Personen gemeint seien, die dem Vorbild der ersten drei Generationen von Muslimen folgen, dann müsse man alle Muslime weltweit als Salafisten bezeichnen. „Denn wir Muslime eifern Mohammed, seinen Gefährten und seinen Nachkommen nach, so wie Christen Jesus und seinen Jüngern nacheifern“. In der Gesellschaft werde der Begriff „Salafist“ aber mit Extremismus, Terrorismus und radikalem Islamismus gleichgesetzt. „Und davon grenzen wir uns ganz klar ab“.

Ansaar bestreitet politische Ambitionen

Doch strikt genommen fängt genau hier der islamische Fundamentalismus an. Salafisten orientieren sich am Leben der „frommen Altvorderen“, also der Generation des Propheten Mohammed und der zwei Generationen danach. Polygamie, die Vollverschleierung der Frau und eine strikte Geschlechtertrennung in allen Bereichen des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind Elemente des Lebens der sogenannten „goldenen Generationen“. Diese werden – bei allen Unterschieden und Grabenkriegen – von allen islamistischen Bewegungen geteilt, von der Muslimbruderschaft über die schiitischen Kleriker im Iran bis hin zu saudischen Wahhabiten. Die große Frage ist: Wie politisch ist diese Form der ultrakonservativen Lebensführung?

Ansaar selbst bestreitet jede Art von politischer Ambition. Der Verein stehe voll hinter der deutschen Verfassung und der Demokratie, fördere weltweit das Lernen von Mädchen, erkenne das Existenzrecht Israels an und spreche sich regelmäßig gegen radikale Islamisten aus. „Auch wollen wir hier keinen islamischen Staat errichten“, sagt Kayser in Bezug auf Befürchtungen vor allem aus konservativen Kreisen. „Das wäre für Deutschland auch völlig irreal, denn dann müssten ja 70 Prozent der Deutschen eine islamische Partei wählen.“ Im Bundestag bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit, um das Grundgesetz zu ändern. Statt den Islam als politische Alternative zu betrachten, erfreue er sich der Tatsache, in Deutschland seine Religion in Frieden und Freiheit ausleben zu dürfen.

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Wohltäter oder Salafisten? Die Eingangsfrage ist komplizierter geworden. Es scheint nicht mehr um konkrete Akte der Terror-Unterstützung zu gehen, sondern um Aspekte der individuellen Lebensführung. Und die sind in einer liberalen Gesellschaft unantastbar. Wie also umgehen mit einer Organisation, um die sich in Deutschland geborene Muslime scharen, von denen sich viele hier nicht mehr heimisch fühlen? Wirklich verbieten? Und dann? Diese Menschen verschwinden ja nicht einfach. Und ihre Perspektive verschwindet ebenso wenig: Viele junge Muslime in Deutschland betrachten den Umgang der Behörden und der Medien mit Ansaar nämlich nur als weiteres Beispiel für einen generellen Kulturkampf westlicher Institutionen gegen den Islam.

In deutschen Ämtern und Redaktionsstuben wird diese Perspektive vielfach übersehen und missverstanden. Es wird verkannt, wie tief der Stachel der Desintegration im Fleisch der migrantischen Bevölkerung sitzt. Denn vielen Menschen mit Migrationshintergrund ist nur all zu schmerzhaft bewusst, dass schon in den 1990ern in Deutschland Asylbewerberheime in Flammen standen. Oder dass ihre Nachnamen nur selten die Klingelschilder an den teuren Einfamilienhäusern der Vorstädte zieren. Wenn die Mehrheitsgesellschaft ihnen dann noch widerspiegelt, dass sie nicht dankbar und anpasst genug sind, sie aber auch in der Heimat ihrer Eltern oft nur als Fremde wahrgenommen werden, dann bleiben nicht mehr viele Angebote, aus denen sie eine stabile Selbstidentität formen können.

„Wer sind eigentlich die wahren Terroristen?“

Was ihnen bleibt, ist die identitätsbildende Kraft des Glaubens. Und was vielen von ihnen ebenso bleibt, ist die vergangene Erschütterung, die Menschen erleben, die in Armut groß werden. Die Erschütterung durch den Schmerz der eigenen Biografie, durch das gefühlte Kleinersein, Ärmersein, Wenigerwertsein. Das persönliche Erleben wird vervielfacht durch die empfundene Ungerechtigkeit der Welt, die Ohnmachtsgefühle auslöst wie kaum etwas anderes. Die eigenen „Brüder und Schwestern“ sterben zu sehen, in Gaza, Irak, Syrien oder Afghanistan. Bilder, die einen Menschen nicht mehr verlassen, von Kindern, die tot im Staub liegen, bevor sie ihren zehnten Geburtstag feiern. Getötet durch Waffen und Bomben, produziert und verkauft im Westen, abgesegnet durch Beschlüsse, die in Parlamenten in Deutschland, Großbritannien oder den USA getroffen werden. An diesem Punkt stellen sie die Frage: Wer sind eigentlich die wahren Terroristen?

Man muss diese Perspektive nicht unwidersprochen lassen, doch man muss verstehen, warum es sie gibt. Dann versteht man auch, warum in Deutschland Menschen leben, viele davon mit Migrationshintergrund, die den Werten, für die sich der Westen augenscheinlich einsetzt, zwiegespalten gegenüberstehen – und die sich stattdessen anderen, radikaleren Ideologien zuwenden. Selbstverständlich darf und muss man selbstbewusst für die Werte der Aufklärung einstehen. Doch dann muss man auch andere Fragen stellen: Ob wir es uns weiterhin leisten wollen, dass jeden Tag Kinder verhungern. Dass täglich Menschen durch unsere Waffen sterben. Dass Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind vor Krieg, Armut und Verfolgung. Ansaar hat sich diesen Fragen verschrieben. Ob der Verein verboten wird, entscheidet bald das Bundesinnenministerium.

Dieser Text erschien zuerst im Nordkurier (16. Januar 2020)

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